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Lisz Hirn im Gespräch

Was ist der Mensch? Diese Frage zieht sich durch die Philosophiegeschichte. Ein Gespräch mit der Philosophin und Publizistin Lisz Hirn über Mensch-Sein und Menschenfeindlichkeit
Portraitfoto von Lisz Hirn

Was Alceste hasst, zeichnet uns Menschen auch aus – im Gegensatz zu Tieren oder Künstlichen Intelligenzen. Wir können diplomatisch agieren, weil wir Situationen auf mehreren Ebenen interpretieren und Widersprüche managen können, und weil wir unser Inneres nicht unbedingt nach außen tragen müssen. Das lässt die Menschen für Alceste manipulativ erscheinen. Welches Menschenbild prägt das Stück? 

Was ich spannend finde, ist, dass Molière mit dieser Figur durchaus das negative Menschenbild von Thomas Hobbes zeichnet. Der Mensch als Raubtier, als Wolf, dem man eigentlich nicht trauen kann, der nur für seinen eigenen Nutzen lebt. Wenn er die Chance hat, ergreift er die Macht und lebt sich auf Kosten der anderen aus. 
Das ist ein menschliches Wesen, das sich durchaus in diesem historischen Kontext wie es Hobbes in seinem Leviathan gezeichnet hat, begründen lässt, aber natürlich auch stark von den persönlichen Erfahrungen des Künstlers Molière gefärbt ist. 
Der Hof zu Versailles, der sich um den Sonnenkönig Louis XIV drehte, war alles andere als ein idyllischer und menschenfreundlicher Ort. Intrige stand auf der Tagesordnung, was auch Molière am eigenen Leib erfuhr. Philosophiegeschichtlich wurde das hobbessche Menschenbild vom Konzept Rousseaus abgelöst. 
Der zeichnet ein positiveres Menschenbild: Man müsste den Menschen nur zur Natur zurückbringen, erziehen, und dann wäre er in seinem Wesen gut. Erst durch die Intrigen, denen er in Beruf, Politik oder in Gesellschaft ausgesetzt ist, wird er verdorben.

Man könnte sagen, das nimmt Molière vorweg, da dieser Gedanke auch Alceste antreibt. Was ihn an Célimène stört, kommt „nur aus der Welt, in der sie noch verkehrt.“, sagt er. 

Rousseau argumentiert, dass der Mensch der Erziehung bedarf, um sich zu einem idealen Staatsbürger entwickeln – und Hobbes meint, man brauche einen Souverän, der den Menschen beherrscht und von oben Regeln diktiert, um ihn unter Kontrolle zu halten. 
Zwei sehr unterschiedliche Ansichten des Menschseins erschüttern innerhalb kürzester Zeit die europäische Philosophie, mit ganz unterschiedlichen Implikationen auch für Ethik, Kultur, Bildung und Wissenschaft. 

In ihrem neuen Buch* schreiben Sie den Satz: „Eine Party von Robotern ergibt keinen Sinn, ebenso wenig wie Politik mit Künstlichen Intelligenzen.“ Was macht es denn aus, dass eine Party wie in Célimènes Salon ein bisschen unterhaltsamer ist als man sich das unter Robotern vorstellt? Und warum ist das Alceste zuwider?

Alceste ist immer wieder abgestoßen von der menschlichen Fehlbarkeit. Der Mensch ist eitel, neigt zur Maßlosigkeit. So zeigt er sich auch in Célimènes Salon. 
Die Frage ist aber, ob man auf diese menschliche Eigenschaft mit einem positiven oder einem negativen Blick schaut. So gebiert das Böse auch Gutes: Der Ehrgeiz oder die Ruhmsucht mancher, Kriege zu führen, führte beispielsweise zu Errungenschaften in Medizin und Technik, die keiner von uns missen möchte. Natürlich gilt das auch umgekehrt. So sind wir als Spezies an dem Punkt angelangt, wo wir uns selbst vernichten könnten. Hier kommt das Politische ins Spiel: Politik ist nur da gefragt ist, wo es sterbliche Wesen gibt, die das Ungerechte ansprechen können und dadurch überhaupt erst nach Gerechtigkeit verlangen können. Unsterbliche, Roboter brauchen keine Politik. 

Es gibt eben diese Unschärfen in der menschlichen Existenz, wo mehr Rationalität zu nicht besseren oder überhaupt zu Ergebnissen führt.

Weil Gerechtigkeit je nach Situation und Entwicklung der Welt immer wieder neu ausverhandelt werden muss?

Ja, genau. Weil es keinen Endpunkt gibt. Es gibt nicht diesen Punkt, an dem eindeutig ist, was das Gerechte ist, auch weil jeder Mensch in seiner Individualität etwas anderes als gerecht oder ungerecht empfindet. Zum Beispiel ist für die einen Verteilungsgerechtigkeit gerecht, die anderen hingegen empfinden es als gerecht, wenn Schwächere mehr unterstützt werden und nicht in gleichem Ausmaß wie sie selbst. 
Bei der Programmierung Künstlicher Intelligenzen stehen wir vor dem Problem, eindeutige Lösungen für verschiedenartige Problemsituationen zu finden. Wie soll beispielsweise das selbstfahrende Auto reagieren, wenn zwei Menschen in Gefahr sind und die Maschine sich entscheiden muss, wen sie überfährt? 
Da geht es dann weniger um Gerechtigkeit, sondern um Rechtfertigung. Technische Rationalität gelangt genau an eine Grenze, die Alceste nicht aushält: die der menschlichen Vulnerabilität. Es gibt eben diese Unschärfen in der menschlichen Existenz, wo mehr Rationalität zu nicht besseren oder überhaupt zu Ergebnissen führt. 

Menschlichkeit ist auch durch Sprachlichkeit charakterisiert. „Der Menschenfeind“ ist ein Stück über Sprache, geschrieben in einer höchst geformten Sprache, in der es vornehmlich ums Sprechen geht:  Wie hinter dem Rücken der Leute gesprochen wird, wie die Figuren anderen schmeicheln oder wie jemand versucht, seine oder ihre Gefühle zu erklären. Was kritisiert Alceste an der Sprachkultur? 

Er kritisiert die Falschheit und Verlogenheit. Auch die aufgesetzte Höflichkeit. Ich glaube an der Sprachkultur an sich hätte er gar nichts auszusetzen. Je klarer und definierter man sich ausdrücken, umso besser. Eine gute Rhetorik ist wesentlich für einen Aufstieg in der Gesellschaft, im Beruf und in der Politik. Alceste stört, wie Sprache genutzt wird, dass um die Sachen herumgeredet wird, die Schmeicheleien, die Lügen, kurz: alles, was aus seiner Sicht vom Wesentlichen ablenkt, was die Vernunft gebietet.

Zugleich führt das Stück durch die anderen Figuren auch an die Spielräume in der Sprache heran. Sprechen ermöglicht es, Situationen, Haltungen und Perspektiven zu interpretieren. Deshalb gibt es in der Gerichtsbarkeit Anwälte, die Gesetze und ihre Anwendbarkeit auf komplexe Sachverhalte interpretieren. Alceste hingegen weigert sich, einen Anwalt zu konsultieren. Für ihn sind die Grenzen zwischen Richtig und Falsch eindeutig.

Szenenfoto Der Menschenfeind Tobias Voigt, Caroline Baas, Julian Tzschentke
© Franzi Kreis

Gerade Anwälte repräsentieren für Alceste diese moralische Willkür, die er so verachtet. Für ihn sind die Grenzen zwischen Richtig und Falsch völlig klar. Célimènes Charakter, verhandelt diese Grenzen anders. 

Im Gegensatz zu Alceste bringt sie das Spielerische in die Sprache, das Unbeschwerte im Sozialen, das Alceste ja überhaupt nicht hat. Seine Beziehung zu ihr ist eine geradezu absurde Romanze, weil ein kaum gegensätzlicheres Paar vorstellbar ist. Célimène geht auf eine ganz andere Art und Weise mit Konflikten um als Alceste, der immer sehr moralisierend ist, immer den Zeigefinger oben hat.

Ist es von einem rationalen Blickwinkel aus schwerer, mit den Ambivalenzen des Lebens umzugehen?

Auf jeden Fall. Die Beschäftigung mit Mathematik hat bekanntlich für viele etwas sehr Tröstliches. Ich verstehe den Reiz des Nerdtums – sich beispielsweise ausschließlich mit dem Programmieren zu beschäftigen, also in einem Feld unterwegs zu sein, in dem man Entscheidungen immer rational begründen und nachvollziehen kann. Widersprüche, Leerstellen oder Affekte sind nicht leicht zu bewältigen. 
Wie gehe ich damit um, dass Kollektive oder auch Einzelne manchmal absolut irrational reagieren? Alceste sieht den Rückzug als einzigen Weg. 

Es gibt eine kurze Stelle, an der eine Schwäche von Alcestes Selbstbild aufblitzt. Alceste regt sich über Oronte auf, Célimène muss lachen und er sagt: „Finden Sie mich endlich auch mal amüsant?“ Alceste weiß, dass der Humor ein bisschen auf der Strecke bleibt, wenn man so ist wie er.

Ja, das stimmt. Das ist vielleicht auch eine Verbindung zu unserer Zeit. Die Haltung von Alceste ist ja in vielen Punkten durchaus nachvollziehbar, aber die Art, wie er die Kritik bringt, ist sozial nicht verträglich und anschlussfähig. Célimène verwendet tiefgründigen und schneidenden Humor als Mittel, um unangenehme soziale Situationen zu meistern. Das schafft Alceste nicht. 
Ich sehe da den Bogen zu heutigen Diskussionen, die oft erbittert ausgefochten werden und verhärten. Ich glaube, dass Molière im Alceste - er hat die Rolle ja auch selbst verkörpert – viel Selbstkritik anklingen lässt. Auch ihm war die Verbitterung und Enttäuschung nicht fremd, seine Kämpfe am Hof und mit der Kirche hatten im Laufe seines Lebens deutliche Spuren hinterlassen.

Apropos Rückzug: Gibt es viele Einsiedlerfiguren in der Philosophiegeschichte?

Jedenfalls auffallend viele. Ich muss überlegen, welcher Philosoph, ungegendert, kein einsiedlerisches Leben führte! Rousseau, Hobbes, das waren alles keine Familienmenschen. Im Humanismus gab es schon einen gewissen Bezug zum Sozialen, vielleicht auch die Fähigkeit zur Utopie, das sieht man bei Thomas Morus, aber seine Geschichte ist nicht gut ausgegangen. Später Kant als Solitär, Nietzsche, Feuerbach. Auch Wittgenstein hat sich immer wieder zurückgezogen, war nur phasenweise in Gesellschaft. Viele Philosophen zogen den Elfenbeinturm vor. Erst im 20. Jahrhundert und durch verstärktes interdisziplinäres Arbeiten gab es einen Kulturwandel. 

Was tut man in der philosophischen Praxis, um sich rational den Widersprüchen anzunähern, ihnen beizukommen und einen gangbaren Weg zu finden?

Ich glaube, dass Wichtigste ist, sich der eigenen Haltung bewusst zu werden. „Ein Freund für alle, ist kein Freund für mich.“ Das lässt Molière seinen Alceste sagen. Es geht nicht darum, alle zu mögen und Unerträgliches schön zu reden. Es ist wichtig, festzustellen, wo gesellschaftliche und eigene Grenzen liegen - und diese auf niveauvolle Weise zu kommunizieren. An Letzterem hapert es leider. 

  • Lisz Hirn: Der überschätzte Mensch – Anthropologie der Verletzlichkeit, Zsolnay 2023
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