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„Alles wird gehetzt, damit sich ja nichts ändert.“

Anlässlich des 100. Todestags Kafkas haben wir zwei Experten für Kafka nach kurzen Statements zu drei Fragen gebeten.

Dr. Rainer Just, geb. 1971 in Wien, lehrt Literaturtheorie am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien; daneben diverse essayistische und literarische Tätigkeiten.

Dr. Helmut Neundlinger ist Literaturwissenschaftler am Archiv der Zeitgenossen der Universität für Weiterbildung Krems. 

In ihren Antworten spiegeln sich Leitlinien der zeitgenössischen Kafka-Interpretation wieder, aber auch unterschiedliche Deutungen des großen Autors.

100 Jahre nach Kafkas Tod hat das Kafkaeske um sich gegriffen. Wie verhält sich in Ihren Augen unsere Gegenwart zum Werk des Autors?

Dr. Helmut Neundlinger: Das Kafkaeske erhält in unserer Gegenwart eine ökologische Dimension: Im Umgang mit den endlichen Ressourcen des Planeten verhalten wir uns kafkaesk gegen uns selbst, unsere eigenen Lebensgrundlagen.

Dr. Rainer Just: Ein ‚großes‘ literarisches Werk geht immer der Zeit voraus – Kafka hat in diesem Zusammenhang einmal von der Kunst als „Spiegel“ gesprochen, „der wie eine kaputte Uhr vorgeht“ – und die Wirklichkeit, die dem Werk folgt, ist sozusagen die Wahrheit seiner erhellenden Entstellung. 

In diesem Sinn ist die Wirklichkeit, die auf ein ereignishaftes Werk folgt, immer dessen Adaption. Das 20. Jahrhundert hat Kafka adaptiert, das 21. Jahrhundert wird es genauso tun müssen: entweder als Tragödie oder als Farce. Es liegt in unserer Hand, wie wir unsere kafkaeske Rolle anlegen. 

Was ist denn Wirklichkeit, was ist denn Gegenwart? – Nichts Gegebenes, Festes, sondern ein Bruch, ein Bruch mit der Vergangenheit, und ein Riss, durch den die Zukunft hindurchblitzt und uns anzwinkert. Kafka zwinkert uns aus der Zukunft zu: schelmisch, bedrohlich, widerspenstig. 

Die Zeit, in der wir leben, forciert, glaube ich, gerade die kafkaeske Lust am labyrinthischen Schwindel. Der Mensch von heute, vor allem der junge, hedonistisch-konsumorientierte, hat nicht mehr dieselbe Scheu vor der Überwachung und dem Ich-Verlust wie der Mensch des 20. Jahrhunderts. Es ist geil, sich auszustellen. Es ist geil, seine intimsten Daten verarbeiten zu lassen. Da muss kein Fremder mehr am Morgen ins Schlafzimmer einbrechen – das Schlafzimmer ist bereits zum Schaufenster gemacht. I like Kafka – das heißt heute vor allem: Ich bin bereit, die Paranoia zu genießen. Das Kafkaeske ist immer die Adaption des Blicks des anderen. Des herrschenden Blicks. Des verbotenen Blicks. Seht her, wie ich den Apfel esse!

„Der Prozess“ beschreibt die Ohnmacht Figur gegenüber einem Gericht. Wie hat sich die Rezeption des Gerichts mit den Zeiten verändert?

Dr. Rainer Just: Was ist dieses ‚Gericht‘, dem K. ausgesetzt ist? Die Interpretationen des 20. Jahrhunderts folgten der Katastrophengeschichte, welche die Wirklichkeit veranstaltete, und sie waren dementsprechend ernst, dunkel, hoffnungsarm. Das Gericht als totalitäre Maschine, als Zerrbild des Hitlerismus und des Stalinismus, als bürokratische Verschlingungsanstalt und Apparatus der verwalteten Welt, der den Menschen durch den Fleischwolf der Entfremdung dreht, ihn verdinglicht, verschrottet. 

Aber die Über-Macht auch als Über-Ich-Instanz gedeutet: Kafkas unleidlicher Vater, das Double-Bind-Verhältnis zu ihm, ins Gigantische, ins Allgemeine projiziert. Oedipus redivivus. Und da ist dann auch der Schritt zur schicksalshaft-existenzialistischen Sichtweise nicht mehr weit: Seht her, der Mensch in seiner ewigen Suche nach Gott, Glück und Gnade! K. als Exemplum des Menschen, der weiß, dass Gott tot ist, aber überall seine Stellvertreter sieht, zu spüren bekommt: dreckig, schmutzig, korrupt, obszön, übergriffig, gewaltvoll. 

Das Gericht ist die klebrige Macht, die resigniert hat: Gott ist tot, aber einer muss schließlich die Drecksarbeit machen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden dann die Interpretationen wesentlich entspannter, vor allem durch die Rezeption von Gilles Deleuze und seiner Anti-Ödipus-Perspektive: Da wurde – zu Recht – der lustige Kafka, der lachende Kafka ‚entdeckt‘. Kafka ist nun mal doch ein österreichischer Autor: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Alles Theater – auch das Gericht entpuppt sich am Ende als großes Natur-Theater, das kein Außerhalb, kein Außerhalb des Textes und seiner unheimlichen Wirksamkeit kennt.

Dr. Helmut Neundlinger: Aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts stand das Gericht vor allem für die Mechanismen totalitärer Herrschaft, die den Einzelnen drangsaliert bzw. auslöscht, wenn er sich deviant verhält. Im Zeitalter des Digitalen erhält das Gericht noch eine andere Dimension: Die Datenspuren unseres Nutzerverhaltens liefern uns den Technologie-Konzernen auf eine Weise aus, die wir zugleich selbst erzeugen und dennoch kaum kontrollieren können.

Warum ist „Der Prozess“ auch 100 Jahre nach Kafkas Tod noch aktuell?

Dr. Rainer Just: Die Aktualität Kafkas liegt in seiner Zeitlosigkeit, präziser gesagt: in der Behandlung der Zeit-Frage. Die Zeit ist in Kafkas Werk mythisch ‚aufgehoben‘: Wir sehen Bilder einer eingefrorenen Zeit, einer gebannten Wiederholung, in der alles dynamisch erscheint und trotzdem alles stillsteht. Das ist Kafkas „stehendes Marschieren“ – der unheilvollste Wesenszug der kapitalistischen Betriebsamkeit. 

Alles wird gehetzt, damit sich ja nichts ändert. Keiner soll mehr Ruhe zum Denken finden, weil kein wahrer Fortschritt sein darf. Der „Prozess“ ist in Wahrheit Paralyse – das ist Kafkas Urteils-Spruch über die moderne Welt. Kafkas Roman zeigt uns ein Stillleben aus dem kapitalistischen Eispalast, aber diesen Bildern der dynamischen Erstarrung ist auch immer die Aufforderung eingeschrieben, dass es sich ändern soll. Kafkas Trick ist hier, dass er den Kriminalroman, das Genre mit dem größten Massen-Appeal, invertiert, pervertiert, subvertiert hat. 

K., der Bank-Angestellte, steht vor der ur-kriminalistischen Frage (und wir mit ihm): Wer ist für die Gewalt verantwortlich? Für den Horror, der herrscht. Was macht den Menschen Angst? Was macht sie depressiv? – Ein Betrieb ohne Sinn, Traum und Gnade. Ein Labyrinth der Ungerechtigkeit. Eine strukturelle Gewalt ohne Geist und Zentrum. Anders Behring Breivik, der Terrorist und Massenmörder aus Norwegen, hatte auf seinem Facebook-Profil Kafkas „Prozess“ als eines seiner Lieblingsbücher angegeben. Kafka bleibt so lange hochaktuell, solange das Leben noch immer im Stehen marschiert. Die Frage ist nur: Wer will sein Soldat sein – und wer kann über ihn lachen? 

Dr. Helmut Neundlinger: „Der Prozess“ wird immer aktuell bleiben, es gibt kaum eine dringlichere Parabel über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. 

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